Nackte ausserhalb und innerhalb von Utopics

 

 

Von Thomas Zollinger

 

Die Performance „Naked Ufo", mit Bedacht auf den Vorabend der Eröffnung der 11. Schweizerischen Plastikausstellung terminiert, hat vielstimmiges Echo ausgelöst. Die Passantenöffentlichkeit reagierte auf die Nackten auf dem Zentralplatz gelassen und mit „amüsiertem Staunen", wie in nationalen Online-Medien von SF, Berner Zeitung, Tages Anzeiger usw zu lesen war. Natürlich gab es die Fragen „was soll das" oder die eine oder andere unflätige Bemerkung. Die 18 unaufgeregt dastehenden nackten Körper gaben mit ihrer stillen Präsenz aber keinen Anlass für grobe Ausfälligkeiten, eher für Nachdenken oder Interaktion. Vereinzelte Personen und Velofahrer liessen es sich nicht nehmen, den Gang beziehungsweise die Fahrt zwischen den Nackten hindurch zu zelebrieren. Viele schauten eine Weile, knipsten Handyfotos, gingen weiter oder begannen zu plaudern.

 

Die Frage der polizeilichen Bewilligung wurde speziell thematisiert (BT 07.09.09). Biel interpretiert die Verfassungswirklichkeit mit der Kunstfreiheit kohärent und schafft mit der offiziellen Bewilligung ein möglicherweise bedeutungsvolles Präjudiz. Bisher 5 von 6 weiteren angefragten Städten lehnen eine Bewilligung ab.

 

Im öffentlichen Raum hat der reale nackte Körper also trotz der erstaunlichen Akzeptanz während der Performance einige „Brisanz" (BT 27.08.09). Darin einen „Tabubruch" zu sehen (BT 29.08.09) ist abwegig. Der nackte Körper ist ein Medium wie Stein, Eisen, Textil, Foto, Pflanzen, Erde, Wort usw. Er ist in der künstlerischen Praxis schon lange kein Tabu mehr. Er taucht in der Performance Art und über Grenzgebiete des Tanzes seit den 70er Jahren in Werken der Kunst auf. Man könnte sich eher darüber wundern, warum der nackte Körper im geschützten Raum des Kunsthauses oder auf der Bühne als Medium selbstverständlich ist, nicht aber im öffentlichen Raum.

 

Auf der konzeptionellen Ebene schliesst sich die Frage an, ob es für eine Plastik-Ausstellung, die selbstredend als „Referenz für Kunst im öffentlichen Raum" gelten möchte, nicht angesagt wäre, Recherchen zu initieren, die den nackten Körper mit seiner Energie und Plastizität im öffentlichen Raum thematisieren. Wer wie Simon Lamunière dem Kulturplatz-Fernsehpublikum eine Brille vorführt, die die Wirklichkeit umgekehrt sieht und eventuell auch darum die Naturisten „so wichtig" findet (Kunstbullletin 9/09), wäre nahe dran. Stattdessen präsentiert er mit Utopics einen konventionellen Plastikbegriff mit Installationen, Material-Interventionen, Ideenpräsentationen und virtuellen Spielereien. Eine Ausnahme macht die Integration des Bieler Parzifal in Utopics. Seine Präsenz strahlt über den Zeitraum der Plastikausstellung hinaus. Die Aktion der Béliers am Tage vor der offiziellen Eröffnung ruft die Energie in Erinnerung, mit der eine Gruppe über Jahrzehnte hinweg an der Realisierung einer politischen Utopie dranbleibt.

 

Die gestalterischen Möglichkeiten mit dem Performance-Körper werden in „Utopics" ausgeblendet, bis auf die Eurythmieaufführung, die allerdings 80 Jahre zurückgebliebene Körpersprache zeigt, sowie der Auftritt des Künstlers Jérôme Leuba mit der Gewehrattrappe an der Nidaugasse, was einen Polizeieinsatz provozierte. Er will mit „ 'Battlefields' Spannungsfelder in einer mediatisierten Gesellschaft erörtern". Zwischen den Körper des Künstlers und den Passanten schiebt sich eine Gewehrattrappe, zum Zweck der Darstellung des Spannungsfeldes und der Auslösung einer Reaktion. Bei „Naked Ufo" schiebt sich nichts mehr dazwischen, auch keine Kleider, und die Auslösung einer Reaktion ist nicht das Ziel.

 

Im Mittelpunkt steht eine Gesamtplastik von nackten Körpern im Verbund mit bekleideten Passanten. Ihre Form und Choreografie ist nicht vorauszusehen. Im Unterschied zu den happeningartigen Fotoshootings von Spencer Tunick verschwindet der Einzelne nicht in einer Masse von Nackten in einem polizeilich abgesperrten Revier. Er ist sichtbar und der Passantenöffentlichkeit ausgesetzt. Er exponiert sich so selbstverständlich wie wenn er bekleidet wäre. Am schönsten wäre es, wenn die Passanten wie üblich zirkulieren und gar nicht hinsehen, so unspektakulär ist es, so zu sein, wie wir alle geschaffen und geworden sind.

 

Mit dem Projekt der ONS-Naturisten lässt Utopics selber für die Vision der Freikörperkultur werben, diskret und abgelegen in einem Schaufenster. Das Konzept von Simon Lamunière will es so. Er möchte „Kunst verstecken".

 

Vorab, um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen und um die Argumentation auf die richtige Ebene zu bringen: Die Idee von Simon Lamunière verstehe ich, ebenso die Ausweitung des Plastikbegriffs ins Kaum-Sichtbare und Virtuelle. Ich teile die Meinung, dass es eher zuviel als zuwenig Kunst im öffentlichen Raum gibt. Wenn die Werke versteckt werden, kann es sein, dass ich beim Gang durch die Stadt über eines stolpere. Das schärft die Aufmerksamkeit und führt zu einer angenehmen Verwirrung. Eine abblätternde Fassade, ein am Seeufer treibendes herrenloses Surfbrett, der Gast im Strassencafé werden zum Spiegel für bizarre Fragestellungen.

 

Ich befinde mich seit 8 Jahren in einem Projekt des Gehens, in dem das Thema des Verschwindens des Künstlers mitschwingt. Darum ist mir Simon Lamunières „Strategie zur Verschleierung von künstlerischen Ansätzen" nicht fremd. Ich machte ihm neben dem auffälligen 40minütigen Nacktsein von 12 bis 20 Personen den Vorschlag für ein unauffälligeres Projekt mit der Investition des Performance-Körpers über den Zeitraum von einer Woche oder der Ausstellungsdauer.

 

Die Gegenüberstellung des Naturisten-Projekt der ONS und der Performance „Naked Ufo" zeigt stellvertretend für ganz Utopics, worin sich die konzeptionellen Ansätze unterscheiden. Hier die Realität von Material und Idee, die papierene Präsentation von Freikörperkultur. Da der reale freie nackte Körper. Hier die auf privatem Terrain verwirklichte Utopie, da die gleiche „Utopie" sich an der gesellschaftlichen Realität reibend. Soll von Utopie ausschliesslich geträumt werden? Liegt es im Begriff der Utopie selber, dass sie nicht real werden darf? Die Frage im Schaufenster: „Naturismus - Utopie oder Wirklichkeit?" Einige Naturisten nahmen an „Naked Ufo" teil und trugen dazu bei, Nacktsein auch auf öffentlichem Terrain „Wirklichkeit" werden zu lassen.

 

Der Naturismus hat seine Wurzeln in der Lebensreform-.und der allgemeinen Aufbruchbewegung der 20er-Jahre des letzten Jahrhunderts. Mit dem Blick zurück auf einen Utopie-Entwurf, der fast 100 Jahre zurückliegt, möchte Utopics einen „Hauch von Monte Verità" (Bund 29.08.) nach Biel bringen. Dazu passt die Programmierung von Eurythmieaufführungen im Stadtpark. Es grüsst die Gedankenwelt Rudolf Steiners, ebenfalls aus jener Zeit. Runtergebrochen steuert hier ein gedankliches System den Körper, genauso wie letztlich auch bei den Kopfgeburten der Utopisten, Idealisten, Genies und Ländergründer, deren Entwürfe und Erklärungen an Dadaismus erinnern- nochmals jene Zeit.

 

Zukunftsweisender wäre eine Einladung an das zeitgenössische Bieler Tanzpotenzial gewesen. Hier wird nicht veraltete Körpersprache aufgeführt. Hier integrieren Tänzerinnen Tanz-Errungenschaften der letzten Jahrzehnte und entwickeln Eigenes, zum Teil versteckt übrigens, sei es mit dem Medium des nackten Körpers oder mit Gruppen. Blitzschnell und mutig kombiniert würde das Monte Verità mit dem Potenzial vor Ort ergeben.

 

In der Zuspitzung sind die Konturen einer Plastikausstellung zu erkennen, die die Gesamtarchitektur einer Stadt sowie Körper und Bewegung der dort ein- und ausgehenden Menschen als Plastik versteht, und auf dieser Ebene subtile Interaktionen vorsieht. Da würde nichts hineingestellt, auch nichts drin versteckt. Eher würde ausgeräumt. Das Bild von den hinein- und hinausgehenden Menschen enthält die Konfrontation oder sanfter: die Begegnung von internationalem Potenzial von aussen mit dem Potenzial vor Ort. Das ergibt neue Erkenntnis. Der Geist im konzeptionellen Ansatz von Simon Lamunière stimmt nicht: „Die Annexion einer Stadt" titelt das aktuelle Kunst-Bulletin 9/09. Zukunftsweisender als die Vereinnahmung eines städtischen Raums zwecks Platzierung von aussen kommender „künstlerischer Interventionen" wären Interaktions-Projekte. Ich wünsche radikalere Konzepte, die für die Zeit der Ausstellung von den Künstlern die Investition ihres Performance-Körpers fordern.

 

Ich spinne den Gedanken weiter und komme zu einem temporären, den ganzen Stadtraum umfassenden Labor mit daran interessierten Menschen, in den hier vorhandenen und zugänglich gemachten privaten Räumen, dem öffentlichen Raum und, als Referenz, mit einem oder mehreren Kunsträumen.

 

Wer diese Überlegungen nachvollzieht, sieht in „Naked Ufo" im vorliegenden Kontext von Utopics nicht nur die Performance selber, sondern auch eine Interaktion auf der Ebene des Konzepts. Thematisch eingegrenzt, aber in einem weiter ausgreifenden Kontext ist eine künstlerische Recherche lanciert, die die Interaktions-Möglichkeiten des nackten Körpers in Relation zur Passantenöffentlichkeit erkundet. Mit Bezug auf die abgelehnten Bewilligungen für ein „Naked Ufo" in anderen Städten ist angesagt, den Artikel der Kunstfreiheit einem Praxis-Test zu unterziehen. Auf der gesellschaftspolitischen Ebene kann der Frage nachgegangen werden, ob Nacktsein an sich in der Öffentlichkeit gebüsst werden darf oder nicht. Das Provozieren eines Gerichtsurteils in dieser Frage sei den Nacktwanderern überlassen.

 


September 09